03. Mai 1910
Der für die Feier des vierhundertjährigen Stadtjubiläum eingesetzte geschäftsführende Ausschuß hat in Verbindung mit dem Preß- und Reklame-Ausschuß Reklame-Marken bestellen lassen, welche, auf die Rückseite der Briefe geklebt, auswärts für das Jubiläum Propaganda machen sollen.
Die Marken zeigen in geschmackvoller Ausführung unseren Marktplatz mit dem alten Rathaus und dem Wochenmarkt und tragen die Inschrift: 400 J. Stadtjubiläum Hohenstein-Ernstthal, Heimatfest 20. – 22. August 1910. Es steht zu hoffen, daß unser Publikum, vor allem aber unsere mit der ganzen Welt in Verbindung stehende Geschäftswelt, recht fleißig von diesen Marken Gebrauch macht. Der Preis eines Bogens dieser Marken, der 16 Stück enthält, ist auf 15 Pfennige festgesetzt. Wiederverkäufer der Marken, die von unserer Stadtkasse zu beziehen sind, genießen besondere Vorteile und wollen sich mit der Stadtkasse in Verbindung setzen.
04. Mai 1910
Ein düsteres Bild aus dem Leben zeigte sich gestern auf dem Neumarkt. Aus einem dort gelegenen Hause wurde eine Handarbeitsfamilie gerichtlich auf die Straße gesetzt. Das armselige Mobiliar blieb einige Stunden auf der Straße liegen und bot neugierigen Leuten willkommenen Gesprächsstoff. Da die Familie bis zum Abend noch keine andere Wohnung hatte, wurden die Wirtschaftsgegenstände nach dem hiesigen Armenhause gefahren. Auch die Familie fand dort vorläufig Unterkommen.
08. Mai 1910
Die Landgrafstraße* wäre heute nachmittag in der dritten Stunde beinahe der Schauplatz eines schweren Unglücks geworden, glückliche Umstände ließen es aber nicht soweit kommen. Mit einem zweispännigen Geschirr des Herrn Kunze (Zementwaren- und Baumaterialiengeschäft) sollte in eines der ersten Häuser der steilen Landgrafstraße eine Fuhre Bausand geschafft werden, als beim Einbiegen in diese Straße, von der Karlstraße her, das Schleifzeug des Wagens versagte und das Fuhrwerk, daß die Pferde nicht mehr halten konnten, sich immer schneller nach unten zu bewegte. Zum Glück steuerten die Pferde nach links, dabei geriet die Deichsel in das Fenster eines Hauses, wobei dieses nach innen gestoßen ward und die Deichsel an 2 Stellen zerbrach und außerdem beide Vorderräder des Wagens beim Anprall an den erhöhten Fußsteig abbrachen, sodaß der schwere Wagen zum Stehen kam. Pferde und Kutscher, welch letzterer sich zwischen Wagen und Haus in recht gefährlicher Situation befand, blieben unverletzt.
11. Mai 1910
Ein bedauerlicher Vorfall, der übrigens zur Warnung dienen möge, trug sich gestern gegen abend in einem Hause in der Schützenstraße zu. Der 12 Jahre alte Sohn eines dort wohnenden Schlossereiwerkführers half der Mutter im Waschhause die Waschmaschine drehen. Bis die Arbeit beendet war und die Mutter für kurze Zeit einmal das Waschhaus verlassen hatte, wollte der Knabe jedenfalls die Maschine entleeren und reinigen, weshalb er vermutlich in dieselbe hineingesehen hatte. Dabei ist der schwere Deckel zugefallen und hat dem bedauernswerten Knaben den Hals eingeklemmt, in welcher Lage er auch kurze Zeit verblieb, da er sich nicht selbst befreien konnte. Als die Mutter nach kurzer Zeit wieder das Waschhaus betrat, fand sie das Kind leblos mit dem Kopf eingeklemmt in der Waschmaschine vor.
Sofort vorgenommene Wiederbelebungsversuche und künstliche Atmungsversuche, die der telefonisch herbeigerufene Arzt Herr Dr. Sommer vornahm, brachten den Knaben ins Leben zurück, doch lag er bis heute nachmittag ohne Besinnung.
12. Mai 1910
Gestern nachmittag erfolgte auf dem Trinitatisfriedhofe die gemeinsame Beerdigung des auf der Hohe Straße wohnenden Kürschnermeister Julius Urbanschen Ehepaares. Die beiden Ehegatten, die im Alter von 82 resp. 80 Jahren standen, starben kurz nacheinander, Herr Urban am Sonnabend und Frau urban am Sonntag, sodaß beide nun auch im Tode vereint sind. Herr Urban war der einzige hier noch lebende Veteran aus den so genannten tollen Jahren 1848/49 und machte als solcher die Straßenkämpfe in Dresden mit. Der Königl. sächs. Militärverein „König Albert“, dessen langjähriges Mitglied Urban war, gab dem toten Kameraden das Geleit zu seiner letzten Ruhestätte und erwies ihm die letzten militärischen Ehren.
Aus Anlaß ihres gestrigen 54. Stiftungstages hielt die hiesige Freiwillige Feuerwehr II. Komp. eine größere Uebung ab, der ein Dachstuhlbrand des Aron Reller’schen Hauses, Ecke der Markt- und Bahnstraße, zugrunde gelegt war. Nachdem die an der Trinitatiskirche angebrachte Alarmeinrichtung in Tätigkeit getreten war, eilten die Wehrmänner zum markierten Brandherd, um dort in Aktion zu treten. Die Uebung verlief recht zufrieden stellend und war nach ca. ½ stündiger Dauer beendet. Der ernsten Arbeit folgte dann im Vereinslokal „Stadthaus“ eine Nachfeier, zu der sich auch die beiden Branddirektoren Lange und Müller, sowie verschiedene Herren vom Feuerlöschausschuß eingefunden hatten. Der Abend nahm einen kameradschaftlichen Verlauf, Ansprachen, musikalische und gesangliche Darbietungen von der Wehrkapelle und der Sängerabteilungen verschönten ihn besonders.
15. Mai 1910
Der erste Kinderspielplatz in unserer Stadt wurde am vorigen Donnerstag auf dem Neustädter Teichplatz errichtet und bereits gestern der Benutzung übergeben. Natürlich machte die Jugend von dem Entgegenkommen, daß unsere Stadtväter boten, bereits im Laufe des gestrigen Tages ausgiebig Gebrauch, denn mehr wie hundert Kinder, große wie kleine, tummelten sich dort herum. Der zweite Spielplatz soll an der König-Albertstraße errichtet werden. Der an der Oststraße errichtete Spielplatz eignet sich dort übrigens sehr vorzüglich und bietet für die Kinder viel Sicherheit wegen des Fahrverkehrs.
19. Mai 1910
Herr Stadtgutbesiter Kunze läßt zur Zeit sein an der Ecke des Marktes und der Bismarckstraße** gelegenes Haus abputzen. Beim Abklopfen des Putzes nun ist ein prächtiger alter Fachwerksbau zum Vorschein gekommen, der auf einem aus Bruchsteinen gefügten Unterbau beruht. Im Interesse der Schönheit unseres Stadtbildes. Daß ja gerade gelegentlich des Jubiläums besondere Aufmerksamkeit finden wird, möchten wir Herrn Kunze zur Erwägung anheim geben, ob er nicht gewillt ist, daß Fachwerk dauernd dadurch dem Auge zu erhalten, daß er daßselbe nicht wieder übertünchen sondern vielmehr farbig übermalen und so dem Bild recht augenfällig entgegentreten lässt. In unserer Zeit der nüchternen, fahlen Hausfronten wirkt so eine Unterbrechung doppelt wohltuend, ganz abgesehen davon, daß solche schöne alte Fachwerksbauten recht gefällig den Charakter einer alten Stadt wiederspiegeln.
21. Mai 1910
Unter der Spitzmarke „Karl Mays Beichte“ wird dem „Chemn. Tagebl.“ aus Prag geschrieben: ein hiesiges Blatt veröffentlicht ein Interview mit dem in letzter Zeit viel genannten Schriftsteller Karl May, der sich bei dieser Gelegenheit so offen über seine Vergangenheit und die Vorwürfe, die man ihm macht, ausspricht, wie er es bisher noch nie getan hat. Auf die Frage ob das wirklich ganz erlogene Behauptungen seien, die Lebius bezüglich seiner Vorstrafen aufgestellt habe, erwiderte May: „Ich bin vorbestraft. Allerdings habe ich meine Strafen längst abgebüßt. Ich schreibe jetzt ein Buch, worin ich nichts leugne und meine Gefängnistaten schildere. Der Titel lautet: „Am Marterpfahl und Pranger.“ Es wird eine Selbstbiographie sein. Ich gestehe darin meine Sünden ein, lege meine Ideale und Bestrebungen dar und schildere daß, was ich noch zu tun gedenke.“ Weiter gab May zu, daß er lange im Kerker gesessen habe. „Das habe ich nie geleugnet. Aber ein Räuberhauptmann war ich nie. Den Räuberhauptmann Krügel, als dessen Komplize ich geschildert wurde, kannte ich nur ganz oberflächlich. Er ging in dieselbe Schule wie ich, allerdings einige Klassen tiefer. Seither habe ich selten mit ihm gesprochen. Einmal traf ich ihn in meinem Heimatsorte Hohenstein-Ernstthal bei Chemnitz. Da trat er auf mich zu und sagte: „May, ich habe Sie um Entschuldigung zu bitten, ich habe vieles, was ich gemacht habe, auf Sie geschoben.“ Auf die Frage, ob man wissen dürfe, weshalb er vorbestraft sei, entgegnete May: „Nein. Mein Verleger hat mir das verboten. Aber das, was man mir vorwirft, habe ich nicht getan.“
*Landgrafstraße = heutiger Ziegenberg
**Bismarckstraße= heutige Friedrich-Engels-Straße