03. Januar 1912
In der gewohnten schlichten Weise vollzog sich bei uns der Uebergang vom alten zum neuen Jahr. Als die Glocken von St. Christophori herab erklangen, hatte sich eine größere Anzahl Personen auf dem Altmarkt versammelt, die sich beim ersten Glockenschlag um 12 Uhr ein jubelndes Prosit Neujahr! Zuriefen. Eine Weile noch promenierte man auf dem Markte und dann verteilte sich die Menge in die Straßen, die sich bald belebten und von fröhlichen Zurufen widerhallten. In mehreren Fällen blieb es nicht bei dieser harmlosen Silvesterfreude. So machte sich in der ersten Nachtstunde polizeiliches Einschreiten in der Waisenhausstraße*1 nötig. Dort hatte ein Färbereiarbeiter einen Streit angefangen, der in Tätlichkeiten ausartete, wobei der Mann, der anscheinend an Tobsuchtsanfällen leidet, zu einem kräftigen Schlage ausholte, in seiner blinden Wut aber in ein Fenster geriet, das in Splitter ging. Der nächtliche Auftritt hatte natürlich eine größere Menschenansammlung zur Folge. Einen für den Beteiligten schlimmeren Verlauf nahm ein nächtlicher Zusammenstoß auf der Dresdner Straße in der Nähe des Lampertusschachtes. Ein auf der Heimkehr nach seiner Arbeitsstätte begriffener Bäckergeselle geriet mit anderen Silvesterfeiernden in Streit und es ward ihm bei den Tätlichkeiten, in deren Verlauf das Messer eine große Rolle spielte, arg zugesetzt. Der Bäcker erlitt Verletzungen durch Messerstiche; u.a. ward ihm ein Handgelenk derart zerschnitten, daß er sofort ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen mußte. Der Verletzte wird sicher längere Zeit erwerbsunfähig bleiben.
05. Januar 1912
Ein steinerner Wegweiser fand gestern Aufstellung am Kreuzungspunkt der Bismarck-, Schiller- und Badstraße, er gibt die Richtungen und Entfernungen nach dem Bahnhof, nach Hermsdorf, Waldenburg, Glauchau und Chemnitz an. Sicher hat der Maler, der die schwarzen Schriftzeichen auf weißem Grunde anbrachte, sich von dem Bestreben leiten lassen, seinem Auftraggeber im vollsten Maße zu befriedigen und lieber etwas mehr schwarze Farbe zu verwenden; in seinem Uebereifer versah er sogar jede Zahl mit einem Punkt („Bahnhof 0,5. km“)
Ein bedauerlicher Unglücksfall trug sich gestern in einer in der Altstadt wohnenden Werkmeisterfamilie zu. Während die Mutter zu einer Versorgung für kurze Zeit die Wohnung verlassen hatte, stürzte das 3 ½ Jahre alte Töchterchen und fiel so unglücklich mit dem Oberschenkel in eine auf dem Fußboden stehende Kaffeetasse, daß die letztere zersprang und die Scherben dem Kind in Fleisch drangen. Das bedauernswerte Kind hat tiefe Wunden erlitten und mußten dieselben von einem sofort zu Rate gezogenen Arzt vernäht werden.
10. Januar 1912
Einen seltenen Gast beherbergt seit zwei Tagen die Böttgersche Webfabrik an der König-Alberstraße*2 , nämlich ein Rotkehlchen, das munter in den weiten Fabrikräumen umherfliegt. Gestern wurde dem Tierchen zweimal die Freiheit gegeben, aber es schien nicht damit einverstanden zu sein, denn es flog jedesmal wieder durch das Tor in die Fabrik ein. Vermutlich hat sich der Vogel durch die bis jetzt herrschende gelinde Witterung nicht bewogen gefühlt, mit nach dem Süden abzuziehen und flüchtete nun vor der plötzlich eingetretenen Kälte in die Fabrik.
11. Januar 1912
Heute Vormittag in der 11. Stunde konnte auf dem hiesigen Güterbahnhofe leicht ein größeres Unglück entstehen, das aber noch glücklicherweise durch die Aufmerksamkeit des Lokomotivführers vom Sammelgüterzug Nr. 7018 verhütet wurde. Genannter Zug fährt auf hiesiger Station auf das Nebengleis an der Güterabladestelle. Das Geschirr der Bleicherei Hüttengrund hatte auf dem Bahnhofe baumwollene Webwaren geladen und wollte abfahren, als plötzlich der schwerbeladene Wagen infolge der Glätte rutschte und mit den Pferden auf das Nebengleis, auf dem der Zug dahergefahren kam, zu stehen kam. Der Zusammenstoß wäre unvermeidlich gewesen, wenn nicht der Lokomotivführer den Zug noch rechtzeitig zum Stehen brachte. Nach längerem Bemühen konnte erst mit Beistand hilfsbereiter Leute und durch Legen von Deckender schwere Bleichereiwagen aus dem Gleis gebracht werden.
17. Januar 1912
Heute morgen in der 8. Stunde fanden Stationsarbeiter in der Nähe des „Logenhauses“ beim Zeichen 973 96 DW. die verstümmelte Leiche eines Knaben, der den Kopf und der rechte Arm abgefahren war. Wie sich aus Notizen ergab, die der unglückliche Knabe in einem Briefe verzeichnet hatte, handelt es sich um den dreizehnjährigen Sohn Max des in Oberlungwitz wohnhaften und in einer hiesigen Fabrik beschäftigten Strumpfwirkers Sch. Der Knabe soll sich als Laufbursche kleine Unredlichkeiten haben zuschulden kommen lassen und der Umstand, daß andere Kinder im Orte von den Verfehlungen sprachen, ließ in ihm den Entschluß reifen, allen Folgen dadurch aus dem Wege zu gehen, daß er seinem Leben freiwillig eine Ziel setzte. In dem Notizbuche machte er noch Mitteilungen von seinem unseligen Entschluß und nahm Abschied von Vater, Mutter und Großmutter. Den bedauernswerten Eltern, die brave Leute sind, wendet sich allgemeine Teilnahme zu.
Ein böser Streich wurde gestern einem auf der Moltkestraße*3 wohnenden Hauswirt gespielt. Dort hatte ein Mieter seine Wohnung zwangsweise räumen müssen. Als nun der Hauswirt die verlassenen Räume betrat, machte er die Wahrnehmung, daß der Mieter die Wohnräume sämtlich mit Carbolineum bestrichen hatte. Es war kein Meter Wand vorhanden, der nicht einen Teil des übelriechenden Zeuges enthalten hatte. Der Mieter hatte die Substanz mit einem starken Pinsel aufgeschmiert und sogar die Fensterrahmen nicht verschont. Gestern weilten bereits einige Vorstandsmitglieder des Hausbesitzervereins dort, um eine Besichtigung vorzunehmen. Der Wirt hat Strafantrag gestellt und dieser Spaß dürfte dem freundlichen Mieter etwas teuer zu stehen kommen. Um die Wohnung wieder in bewohnbaren Zustand setzen zu lassen, dürfte dem Hauswirt eine Ausgabe von schätzungsweise 150 Mk. entstehen. Das schönste bei der Sache war aber noch, daß bereits gestern nachmittag der neue Mieter aus einem umliegenden Dorfe mit seiner Habe erschien, um die Wohnung zu beziehen. Natürlich konnte er nicht hinein.
21. Januar 1912
Auf die kürzlich unter der Spitzmarke „Ein böser Streich“ veröffentlichte Mitteilung übermittelt uns Herr Tiefbauunternehmer Enzmann eine Rechtfertigung, in der u.a. gesagt wird, daß er zur Verwendung des Karbolineums gezwungen gewesen sei, einmal um sich event. Vor Ungeziefer zu schützen, zum anderen aber, um ein Gegenmittel gegen üble Abortgerüche zu haben. Er behauptete ferner, daß er die Absicht gehabt habe, ohne Anwendung irgendwelchen gesetzlichen Zwanges die Wohnung wieder instand setzen zu lassen, und wendet sich gegen die Unterstellung, daß die Räumung der Wohnung eine zwangsweise gewesen sei.
25. Januar 1912
In einem Geschäftszimmer des hiesigen Rathauses benahm sich ein Eisendreher aus Bernsdorf b. Ch. derart ungebührlich, daß er energisch zur Ruhe ermahnt werden mußte, Einsicht scheint aber seine schwache Seite zu sein, denn solche Vorstellungen fruchteten gar nicht, im Gegenteil ward der Mann so ausfällig, daß nichts weiter übrig blieb, als ihn in Haft zu nehmen.
*1 Waisenhausstraße = heute: Herrmannstraße
*2 König-Albertstraße = heute: Conrad-Clauß-Straße
*3 Moltkestraße = heute: Immanuel-Kant-Straße